21.03.23

„Der Rennsport ist für mich wie eine große Familie.“

Der holländische Sportjournalist Hans Sinnige ist aus der deutschen und holländischen Rennsportszene nicht wegzudenken. Hier im Tipp-Treff steht er unserem Experten Win E Rede und Antwort zu seinem persönlichen Werdegang, aber auch der aktuellen Entwicklung des deutschen Pferderennsports.

Hans SinnigeRennsport-Journalist
Kategorie: Rennbahn-Talk
Hallo Hans, Du bist seit vielen Jahrzehnten eine feste Institution in der Rennsportszene in Deutschland und den Niederlanden und wahrscheinlich einer der bekanntesten Figuren im Rennsport überhaupt. Erzähle uns von Deinen Anfängen im Rennsport. War es Liebe auf den ersten Blick oder – im positivem Sinne – ein schleichender Prozess

Hallo Win E., mein Einstieg in den Rennsport kam etwas kurios zustande. Als ich etwa 17 oder 18 Jahre alt war, wohnten wir im Süden Hollands, wo damals noch eine Rennbahn in Schaesberg war, auf der jeden Freitag Galopp- und Trabrennen stattfanden. Irgendwann wurde mein Vater von einem deutschen Kunden, der den deutschen Galopprennsport verfolgte, auf die Rennbahn in Schaesberg eingeladen. Als mein Vater wieder nach Hause kam, erzählte er mir von seinem Ausflug, und wie lustig es gewesen war. Er schmiss das Rennprogramm auf den Tisch, das er mitgebracht hatte, und ich, der gerade Schulferien hatte und mich zuhause zu Tode langweilte, schnappte es mir und versuchte herauszufinden, warum z. B. Pferd Nummer 6 das Rennen gewonnen hatte und nicht Nummer 5. Ich fing an, die Leistungen der Pferde zu vergleichen und dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Das hat mich sehr beschäftigt und sofort gefesselt.

Ich nehme an, am darauffolgenden Freitag hattest Du keine Langeweile mehr

Genau so war es. Ich sagte zu meinem Vater: „Nächste Woche müssen wir da hin, denn ich will das unbedingt selbst sehen.“ Seitdem hat mich die Rennbahn nie wieder losgelassen.

Was hat Dich am meisten fasziniert – der Rennsport oder das Wetten

Am Anfang hat mich ganz klar das Wetten am meisten interessiert, später kamen dann die Pferde dazu.

Wann entstand in Dir die Idee, Rennsport-Journalist zu werden

Meine ersten kleinen journalistischen Jobs – abseits des Rennsports – hatte ich bereits mit etwa 14 Jahren. Ich schrieb Artikel für unsere Lokalzeitung. Mein Bruder hat diese Zeitungen dann in die Briefkästen geworfen und bekam dafür etwa 1 Cent pro Stück. Ich hatte mit dem Schreiben viel weniger Arbeit und habe das Zehnfache meines Bruders verdient – das hat mir natürlich riesigen Spaß gemacht. Als in Schaesberg irgendwann ein Reporter zum Schreiben von Nachschauen gesucht wurde, hatte ich meinen ersten Job als Rennbahn-Journalist.

Wer Dich kennt, weiß, dass Hans Sinnige den Rennsport lebt und liebt wie kaum ein anderer. Was genau ist es, das Dich an diesem facettenreichen Sport so begeistert? Ist es die Ästhetik, die Dynamik, die Spannung, der Wettkampf, das Miteinander oder alles zusammen

Natürlich ist es alles zusammen, aber wenn ich einen Aspekt herausheben müsste, wäre es das Familiengefühl. Der Rennsport ist für mich wie eine große Familie, alle teilen das gleiche Hobby – man liebt die Pferde, die Rennen und den Sport. Das bringt ungemein Spaß.

Das Wetten spielt bei Dir heute keine große Rolle mehr

Ich wette heute eher noch selten. Mir ging es nie um das Geld, sondern ich liege einfach gerne richtig. Als Journalist habe ich hier aber ohnehin täglich die Herausforderung, richtig zu liegen, gute Vorschauen zu schreiben und gute Tipps zu erstellen. Ich bin auch sehr ehrgeizig und möchte nicht gerne danebenliegen. Wenn ich etwas nicht genau weiß, schaue ich mir ein Rennen nochmal an oder erkundige mich bei anderen. In Vorschauen sollen präzise und wichtige Informationen stehen und es ärgert mich sehr, wenn ich Vorschauen lese, in denen Allgemeinheiten stehen, die jeder auch selbst aus dem Formenspielgel herauslesen kann.

Als Chefredakteur einer Rennzeitung ist das Schreiben von Vorschauen ja quasi Dein tägliches Brot. Wie bereitest Du Dich eigentlich auf so einen Renntag vor

Das Rennprogramm landet, früher als bei allen anderen, auf meinem Tisch. Zunächst überfliege ich das Starterfeld und umkreise die Pferde, die mir als erstes positiv auffallen, und mache einen Strich bei den Pferden, die danach kommen. Bei den meisten Pferden habe ich die letzten Rennleistungen noch genau vor Augen, falls nicht, schaue ich mir die Rennwiederholung an. Wenn ich meine Gedanken sortiert habe, erstelle ich meine Tipps, womit der größte Teil erledigt ist. Dadurch bin ich auf den Renntag selbst schon so gut vorbereitet, dass ich dafür eigentlich gar keine Vorbereitung mehr benötige.

Du hast viele Berührungspunkte mit dem Rennsport. Du bist Redakteur, Rennbahnsprecher, Moderator

… Auktionator, Amateurfahrer, Züchter.

Gibt es im beruflichen Kontext den einen Bereich, der bei Dir über allen anderen steht

Die redaktionelle Arbeit ist für mich definitiv an erster Stelle, über den Rennsport zu schreiben, das ist das schönste, was es gibt. Jede Woche liegt wieder eine neue Zeitung da, die mit Inhalt gefüllt werden will, und ich freue mich jedes Mal aufs Neue darauf.

Als Rennbahnsprecher pflegst Du einen sachlichen und eher wertfreien Stil, bei dem Deine eigene Meinung überwiegend hintenansteht. Ist dieser Stil von Dir bewusst so gewählt

Ja, ist das ist so gewollt. Ich möchte sachlich bleiben. Ein paar Mal habe ich schon von Menschen ohne Sehvermögen gehört, „wenn wir Deinen Rennkommentar hören, sehen wir das Rennen vor uns“, obwohl sie nicht sehen können. Das hat mich riesig gefreut, ein schöneres Kompliment kann ich mir nicht vorstellen. Ein Rennen sollte gut und sachlich kommentiert sein und manchmal darf auch interpretiert werden, wenn zum Beispiel jemand bei 1.10er Tempo einen Angriff fährt, sage ich schon, dass es ein sehr mutiger Angriff ist. Herumschreien und jedes Rennen wie ein Zuchtrennen feiern, ist nicht meine Sache. Im Mittelpunkt stehen die Rennakteure und nicht ich.

Emotional wirst Du manchmal aber doch … Dein anfeuerndes „Go-Baby-Go-Go-Go“ ist ja inzwischen ein Kultausruf von Dir. Worin hat das seinen Ursprung

Das kommt aus Italien vom inzwischen leider verstorbenen Kultkommentator Salvio Cervone. Dieser Mann hatte eine Stimme, mit der er Emotionen im Rennen erzeugt hat wie kein zweiter. Ein echtes Vorbild für mich. Manchmal brachte er plötzlich dieses „Go-Baby-Go-Go-Go“ – das finde ich herrlich, und ich habe es in Holland nachgemacht – auch wenn dieser Mann so gut war, dass man ihn eigentlich gar nicht nachmachen kann.

Wenn Du beim Jahreswechsel auf das bevorstehende Traberjahr blickst; auf welches Ereignis freust Du Dich am meisten

Das absolute Jahreshighlight ist für mich die Derbywoche in Berlin. Es gibt tollen Rennsport mit hohen Rennpreisen, aber viel wichtiger ist die Atmosphäre. Man trifft alle seine Freunde, die Stimmung ist super, man kann essen, trinken, und man kann die ein- oder andere gute Wette anlegen – alles, was wir in Holland beim Derby nicht haben, habt ihr in Deutschland.

Apropos Freunde: Gibt es so etwas wie einen besten Freund im Trabrennsport

Es gibt einige sehr gute Freunde und viele gute Freunde. Cees Kamminga ist einer von mehreren sehr guten Freunden, aber auch in Berlin habe ich sehr liebe Freunde und zähle Chris (Christoph Pellander) und Nico (Nicolai Laaser) auch zu meinen guten Freunden. Ich bin glücklich, weil ich im Rennsport wirklich sehr viele Freunde habe, aber es gibt nicht den einen besten Freund.

Wie bewertest Du die Entwicklung des Trabrennsports der letzten 30 Jahre in Deutschland, aber auch in Holland

Als ich 1985 zum Rennsport kam, gab es bei uns in Holland viele kleine Rennbahnen und viel mehr Rennpferde als heute – aber auch viel mehr Probleme. Der Wettumsatz war damals schon rückläufig, und die erforderlichen Gelder von außen blieben aus. So kam ein Problem zum anderen, und so ging es mit dem Rennsport in Holland immer weiter bergab. Heute haben wir einen deutlich kleineren, aber auch kompakteren Sport, der dank Wolvega und der PMU eine sehr stabile Basis hat.

Man hat sich also gesundgeschrumpft

Das würde ich so sagen, obwohl wir auch mit einem Mangel an Startpferden zu kämpfen haben. Wenn wir die hohe Anzahl an Renntagen behalten, werden wir die Rennen im Winter kaum noch gefüllt kriegen. Das wird eine große Herausforderung für uns. Alles in allem – um Deine Frage zu beantworten – empfinde ich den Sport heute als viel gesünder als vor dreißig Jahren.

Eine Aussage, die sich über den deutschen Rennsport nicht unbedingt treffen lässt

In Deutschland verhält es sich umgekehrt. Vor dreißig Jahren war der Trabrennsport in Deutschland riesig. Heute ist er – wie in Holland – wesentlich kleiner, aber nicht besser. Es gibt immer weniger Berufstrainer und Aktive, die von ihrem Beruf leben können und einer wird immer größer. Das macht mir schon große Sorgen.

Du sprichst vom deutschen Goldhelm

Ich war letztens auf der Championats-Ehrung von Michael [Nimczyck]. Wenn man sieht, was für ein Team er hat. Die besten Leute, die es im Trabrennsport gibt, arbeiten bei Michael Nimczyck. Sogar ehemalige Spitzentrainer sind dabei. Er wird größer und größer und hat dazu noch die besten Pferde. In Deutschland gibt es vielleicht noch eine Handvoll Trainer, die einen wirklich professionellen Trainingsbetrieb haben – ich kann mir kaum vorstellen, dass bei denen am Ende des Monats noch Geld übrigbleibt. Dieses Ungleichgewicht ist ungesund. Michael Nimczyck kann man daraus keinen Vorwurf machen, denn er macht einfach das Beste aus seinen Möglichkeiten – das würde jeder so tun.

Was läuft in Holland anders oder sogar besser als in Deutschland

In Holland dreht sich eigentlich alles um Wolvega, um die herum der ganze holländische Sport aufgebaut wird. Bei uns heißt es, wenn Wolvega funktioniert, funktioniert der ganze Sport. Die kleinen Rennvereine ziehen bei uns alle mit, weil sie wirtschaftlich profitieren – und so ist es ein gesundes System, bei dem alle Beteiligten gut überleben können.

Eine Form der Zusammenarbeit, die Du in Deutschland vermisst

In Deutschland ist das schwieriger. Gelsenkirchen arbeitet mehr oder weniger für sich selbst, in Berlin genauso und es stehen sich die beiden Berliner Trabrennvereine eigentlich im Wege und streiten sich regelmäßig um die gleichen 150 Startpferde. Wenn beide kurz hintereinander Veranstalten und der eine einen guten Renntag hat, hat der andere automatisch einen schlechten. Da sind so viele Probleme in diesem Sport, und es macht es nicht besser, dass nicht miteinander gesprochen wird.

Welche Rolle spielt oder sollte Deiner Meinung nach hier der HVT als Dachverband spielen?

Bei uns in Holland regelt die Renntagsvergabe der niederländische Dachverband (NDR). Die PMU-Renntage in Wolvega stehen dabei im Mittelpunkt und darum herum wird ein Terminkalender gebaut, bei dem der NDR immer das letzte Wort hat. Bei der deutschen Terminvergabe sitzt der HVT zwar am Tisch, ist aber mehr oder weniger nur Zuschauer, und das kann meiner Meinung nach nicht sein.

Für ein solches Modell in Deutschland gibt es sicherlich auch Gegenargumente. Hältst Du es für realistisch, dass es bei einer allein durch den HVT verabschiedeten Terminplanung gerechter und fairer im Sinne des gesamt-Deutschen Rennsports zugehen würde

Ich denke, dass es in Deutschland vor allem an einer Instanz fehlt, die die Übersicht über die gesamte Jahresplanung hat und hier die Regie übernimmt. Ich würde mir den HVT als eine Art DFB wünschen. Ein Verband, der die Organisation des deutschen Trabrennsports in die Hand nimmt, sodass nicht jeder einzelne Rennverein seine eigene Sache macht. Natürlich muss eine solche Instanz auch in der Lage sein, den gesamten Sport über das Wohl des einzelnen Rennvereins zu stellen. Wenn das nicht gegeben ist, macht alles andere keinen Sinn.

Abseits des HVT - Fehlt es Deiner Meinung nach in Deutschland auch an einer zentralen Wettvermarktung - zum Beispiel einer einheitlich gestalteten Großwette

Ich denke schon. Dies ist nicht die Aufgabe des HVT, aber sie könnten die Rolle des Vermittlers übernehmen und sich zum Beispiel mit größten Rennvereinen zusammensetzen und versuchen, einheitliche Regeln und Standards festzulegen. Man kann nur etwas vermarkten, wenn es auch ein klar definiertes Produkt gibt. In Deutschland gibt es viele unterschiedliche V-Wetten die auch unterschiedlichen Grundeinsätze haben. Wie soll man so ein Produkt vermarkten?

Hans, zum Schluss unseres Gesprächs nochmal ein paar lockere Fragen rund um den Trabrennsport mit Bitte um kurze Antworten: Das beste Trabrennpferd aller Zeiten ist

Varenne.

Frankreich oder Schweden – in Bezug auf Trabrennsport

Frankreich.

Wer ist der aktuell beste deutsche oder holländische Fahrer?

Hugo Langeweg Jr.

Bestes deutsches oder holländisches Trabrennpferd

… da muss ich überlegen (überlegt fast 2 Minuten). Wenn er gesund ist, würde ich fast Mister F Daag sagen.

Das aktuell spannendste Pferd auf Deiner Watch-Liste

(Überlegt 30 Sekunden) Bei wem ich hoffe, dass er bald gewinnt – und ich glaube, er schafft es auch – ist Gouritch von Thomas Reber. Ich war beim Verkauf involviert. Gouritch hatte viele Probleme und Bas (Crebas) wollte ihn eigentlich nicht als Rennpferd verkaufen. Thomas wollte ihn aber trotz allem haben und ich muss sagen, er hat ihn so stark verbessert.

Hans, vielen Dank für das Gespräch.

Sehr gerne.