16.01.24

„Ich habe keinen Tag bereut, diesen Job angenommen zu haben.“

Früher war er die Stimme Münchens. Heute ist er das Auge Deutschlands. Stefan Spieß, in Hamburg geboren und lange in Bayern zu Hause, ist nicht nur Rennsportfan, seit er laufen kann, sondern seit zwölf Jahren auch Rennleitungsvorsitzender im ganzen Bundesgebiet. Der 58-jährige Familienvater hat im Gespräch mit Melanie Bäumel-Schachtner ganz frank und frei über seine nicht immer einfache Aufgabe und seinen Weg bis dorthin gesprochen und gibt exklusiv für WETTSTAR profunde Einblicke in seinen spannenden und bisweilen fordernden Job und auch die schwierigen Aspekte, die dieser mit sich bringt.

Stefan SpießVorsitzender der Rennleitung
Kategorie: Rennbahn-Talk
Herr Spieß, Sie sind aus dem deutschen Rennsport in verschiedenen Funktionen nicht wegzudenken. Was verbindet Sie mit dem Trabrennsport

Eine ganze Menge. Schon mein Großvater Josef Spieß war aktiv. Er stammte aus Garham in Niederbayern, meine Großmutter aus Daglfing. Zwischen den beiden Kriegen sind die zwei nach Hamburg gegangen. Ich bin auch in Hamburg geboren. Mein Vater Horst Spieß war Trainer, ebenso wie sein Bruder Alfred Spieß und meine Mutter eine der ersten Amazonen in Deutschland. 1972 zogen wir nach München um, denn mein Vater wurde Privattrainer des Gestüts Mullerich. Dieses hatte einen amerikanischen Deckhengst gekauft, dessen Nachkommen allerdings nicht wie gewünscht einschlugen. Nach zwei Jahren wurde mein Vater wieder Public-Trainer, blieb aber in München.

Also sind Sie schon früh auf den Bahnen in Bayern gewesen

Ja, ich habe in Daglfing den großen Boom erlebt, später die Eröffnung Pfaffenhofens. Das war eine tolle Zeit.

Sie haben also neue Wurzeln im Freistaat und auch im bayerischen Trabrennsport geschlagen

Richtig. Ich bin zwar in Hamburg eingeschult worden, ging dann aber in München zur Schule. Rudi Haller war übrigens in meiner Parallelklasse. Wir haben direkt neben der Rennbahn gewohnt, und natürlich war ich ständig dort. Mein Vater ließ mich schon früh schnellfahren.

Und dennoch sind Sie kein Trainer geworden

Der normale Weg wäre tatsächlich gewesen, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten. Aber der hat mir damals, obwohl die Zeiten noch gut waren, geraten, was „Anständiges“ zu lernen. Also habe ich eine Ausbildung zum Immobilienkaufmann gemacht, blieb aber dem Sport immer verbunden. Ja, und ab 1985 wurde ich in Daglfing Rennkommentator. Damals war ich 22 Jahre alt. Eigentlich viel zu jung und mit einer ziemlich dünnen Stimme.

Eine Amateurfahrerlizenz kam auch nicht in Frage

Das war immer der große Wunsch meines Vaters. Ich glaube, er hätte da zu viel Eifer entwickelt, das hat mich immer ein bisschen abgeschreckt. So habe ich die Prüfung lange vor mir hergeschoben. Irgendwann kamen dann die Gästefahren, von denen es früher viel mehr gab. Allein auf den vier bayerischen Bahnen jährlich immer eins für Sportjournalisten. Ich bin tatsächlich auf 44 Einsätze gekommen und immerhin elf Siege. Zur Rennleitung musste ich auch mal: Schläge auf die Radscheiben …

Von Ihnen als Stimme Münchens sprechen heute noch viele. Diese Aufgabe haben Sie mit Herzblut ausgeübt, oder

Ja, total. Es hat wahnsinnig viel Spaß gemacht. Ich durfte Varenne kommentieren bei dessen erstem Auslandsstart, bevor er das beste Pferd der Welt wurde. Wahnsinn, wie der im Schlussbogen auf und davon gezogen ist. Ich bin vor einiger Zeit mal wieder als Kommentator eingesprungen. Da habe ich mir gedacht, wie easy das ist im Vergleich zum Job bei der Rennleitung.

Bevor Sie die Aufgabe als Rennleitungsvorsitzender angetreten haben, gab es aber einige weitere Stationen im Leben. Stichwort Bayerisches Traberjournal

Genau. Ich habe dort schon während meiner Immobilienzeit immer ein bisschen ausgeholfen, zum Beispiel mit Nachschauen aus Pfaffenhofen. Als mir Eberhard Röckl einen Job als Redakteur beim Bayerischen Traberjournal anbot, habe ich keine Sekunde überlegt. 1991 habe ich meinen früheren Job an den Nagel gehängt, beim Traberjournal angefangen und mein Hobby zum Beruf gemacht. 2007 aber kam Traberdeutschland in den Wandel. Günter Herz gründete Winrace, auch die Traberliga ging an den Start. Ich beendete meine Tätigkeit beim Traberjournal und als Bahnkommentator und ging zum Sender BetVision, den Buchmacher Springer für die Traberliga-Bahnen aufgebaut hatte. Das Projekt wurde bald wieder eingestampft. Ich bin aber bei Simon Springer geblieben, habe dort alle Abteilungen durchlaufen. Habe nachts amerikanische Rennen für die Internet-Kunden kommentiert und auch eine Sportwetten-Sendung moderiert. Es war sehr interessant, einmal die andere Seite zu sehen. Diese Episode hat vier Jahre gedauert.

Wie vollzog sich dann der Schritt zur Rennleitung

Im Sommer 2011 rief Heinz Tell mich an. Er kam schnell auf den Punkt und hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, mich beruflich zu verändern. Ich habe wieder nicht lange überlegt. Es war die Chance, auf die Rennbahn zurückzukehren.

Warum gerade dieser Job

Es hat mich sehr gereizt. Ich war immer rennleitungskritisch und wollte es besser machen. Es war zudem auch der Sprung in die Selbständigkeit. Am 1. Januar 2012 fing ich an.

Selbständigkeit? Ist man denn da nicht irgendwo angestellt, zum Beispiel beim HVT

Nein, das glauben viele. Man ist selbständig. Früher wurde die Rennleitung von den Rennvereinen angeheuert, später von der CTB. Heute legt man Wert auf deren Unabhängigkeit.

Wie kann man sich denn da die ersten Schritte vorstellen? Was muss man können und lernen, um so eine Aufgabe zu übernehmen – gibt es da einen Lehrgang

Meine Schulung war eigentlich meine Berufserfahrung. Natürlich habe ich die Trabrennordnung rauf und runter gelesen. Zudem habe ich bei der damaligen Rennleitung hospitiert. Alles andere war bzw. ist learning by doing.

Was war denn dann Ihr erster Renntag

Meine erste Bahn war Berlin-Mariendorf, der erste PMU-Rennen überhaupt in Deutschland mit 15 Pferden pro Rennen. Damals fuhr sogar noch der französische Commissaire Jean Frère bei der Rennleitung mit, aber nur als Beobachter. Die Franzosen haben sich nie in unsere Arbeit eingemischt.

Und dann kam auch schon recht bald das deutsche Traber Derby 2012, das im Gedächtnis blieb

Genau, das turbulente Derby mit Chapeau und Indigious. Gleich die schwerste Entscheidung meiner Rennleitertätigkeit, den Derbysieger zu disqualifizieren.

Wie schwer fiel Ihnen das

Wir haben in der Tat erstmal die Trabrennordnung in die Hand genommen und gewälzt. Ich würde die Entscheidung aber auch heute wieder so treffen. Uns war bewusst, dass dies nicht lautlos über die Bühne gehen würde. Es wurde durch drei Instanzen geklagt, doch da ging es mehr um formaljuristische Dinge. Vor dem Rennausschuss wurde die Entscheidung gleich zu Beginn bestätigt.

Wie hat Ihr bis dato gutes Verhältnis zu Harald Krogmann darunter gelitten

Überhaupt nicht. Wir haben schon zusammengearbeitet, als ich Kommentator war und er Präsident in Daglfing, und natürlich geben wir uns auch immer noch die Hand.

Das heißt, solche Entscheidungen bereiten Ihnen keine schlaflosen Nächte

Nein. Man muss so entscheiden, dass man auch am nächsten Morgen in den Spiegel schauen kann. Deshalb habe ich auch keine schlaflosen Nächte. Und ich habe es auch noch keine Sekunde bereut, den Job des Rennleitungsvorsitzenden angenommen zu haben.

Also fühlen Sie sich nicht manchmal als Buhmann der Nation, weil viele über Sie schimpfen, ähnlich wie über die Schiedsrichter im Fußball oder im Eishockey

Selten. Man darf unsachliche Kritik nicht an sich ranlassen, weshalb ich um Internetforen und Social Media einen großen Bogen mache. Man lernt aus jedem Fall. Man denkt immer, man hat schon alles erlebt, aber das ist nicht so. Immer wieder kommt was Neues, Unerwartetes, und oft trifft auch Murphys Gesetz ein: Das Schlimmste, was passieren kann, passiert. Deshalb ist es wichtig, fähige und erfahrene Leute um sich herum zu haben, wie zum Beispiel Klaus Brammann, mit dem ich 2012 gemeinsam begonnen hab. Es geht nur im Team.

Sie werden also nicht oft angefeindet

Dass einer einem die Kritik ins Gesicht sagt, kommt selten vor. Lieber reden die Leute hintenrum. Das ist oft weniger schön. Und wenn jemand zur Rennleitung kommt, gehören auch Emotionen dazu. Es kommt durchaus vor, dass jemand bei uns lautstark seinen Unmut äußert. Gar nicht mag ich diesen Sarkasmus à la ‚Ihr macht ja doch, was ihr wollt und habt schon längst entschieden‘. Das stimmt einfach nicht. Wir sind doch dazu da, die Leute anzuhören, und auch sie dürfen ihren Standpunkt klarmachen. Aber natürlich muss man auch manchmal eine Entscheidung treffen, die dem Aktiven nicht passt.

Wie sehen Sie Ihr eigenes Standing in Deutschland

Ich halte mich persönlich für kommunikativ, habe für die Aktiven immer ein offenes Ohr und will niemanden abkanzeln. Ich bin bereit, jede Entscheidung zu diskutieren und zu erklären. Viele haben meine Nummer und können mich jederzeit anrufen. Es muss nur fair und sachlich bleiben. Ein klärendes Gespräch schadet nie. Am besten, nachdem man eine Nacht über seinen ersten Ärger geschlafen hat.

Ein Hauptproblem im Sport ist der fehlende Nachwuchs. Sie sind auch als Dozent für die Lehrlingsausbildung zuständig, leiten die Lehrgänge für Amateurfahrer und -trainer. Was kann man da tun, um mehr junge Leute zu begeistern

Ein wichtiger Punkt ist, dass man es mittlerweile schon relativ einfach hat, vom Amateur- ins Profilager zu wechseln. Das war früher viel schwieriger, nun ist die Schwelle niedriger. Lukas Strobl zum Beispiel nutzt gerade diesen Weg. Er hat seine Amateurfahrerlizenz abgelegt und konnte übergangslos als Azubi weiter Rennen fahren. Die Amateurfahrerlizenz ist ein ideales Sprungbrett für Unentschlossene. Jeder kann mich gerne ansprechen und ich informiere, wie das am besten vollzogen werden kann. Das Arbeiten mit den jungen Leuten macht viel Spaß, zumal dann, wenn man ihren Werdegang jahrelang weiter verfolgen kann.

Was ist derzeit das Bedeutsamste, das die Rennleitung umsetzen muss? Der Tierschutz wahrscheinlich, oder

Ja, ganz genau. Viele wissen gar nicht, wie sehr dies Thema in der öffentlichen Wahrnehmung ist. Gerade vor ein paar Tagen war ein UET-Meeting zu diesem Thema. Man versucht, eine gemeinsame europäische Peitschenregelung zu finden. Es gibt da einfach keinen anderen Weg. Wir in Deutschland sind hier ganz gut aufgestellt. Unsere Peitschenregelung wurde wortgetreu aus der schwedischen TRO übernommen, die bekanntlich sehr strikt sind.

Sind Sie dafür, irgendwann ganz auf die Peitsche zu verzichten

Ein klares Nein. Wenn unsere Aktiven die Peitsche so einsetzen wie die schwedischen Kollegen, brauchen wir uns über ein Verbot keine Gedanken machen. Wir sind diesbezüglich noch nicht am Ziel, aber auf einem sehr guten Weg. Ich vergleiche die Peitsche gerne mit dem Taktstock eines Dirigenten. Sie sollte dem Pferd nur eine Hilfestellung geben, Konzentration wecken, die Verbindung zum Fahrer wahren.

Immer wieder werfen Zuschauer der Rennleitung vor, etwas Wesentliches im Rennen übersehen zu haben. Wie kann es zu so etwas kommen

Was auf einigen Bahnen fehlt, ist eine gute technische Ausstattung. In Berlin haben wir fünf Kameras, auf anderen Bahnen nur eine oder zwei. Manche Dinge können wir uns im Nachhinein nicht ansehen, weil sie schlicht nicht auf der Aufzeichnung sind. Es bleibt im Zweifel nichts anderes übrig, als für den Angeklagten zu entscheiden – in dubio pro reo. Es ist im Gespräch, einen zentralen Videoschiedsrichter zu installieren, der uns zuarbeitet. Es stellt sich aber die Frage, wer dies machen kann, wo der oder die sitzen soll und welche technische Ausstattung dafür zur Verfügung steht. Da ist noch viel zu klären.

Gibt es auch irgendeine Entscheidung, die Sie bereut haben

Die gibt es. Aber es waren eher Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben, wie die Disqualifikation von The Revenant, der in Daglfing den halben Einlauf Pass lief und gewann. Ein Alptraum. Ich habe damals den zweitplatzierten Besitzer angerufen und mich entschuldigt. Das hat mir sehr leidgetan.

Welche war die krasseste Situation, die Sie erlebt haben

Vom Gewicht der Entscheidung sicherlich das Derby mit Chapeau. Ansonsten ist jeder Renntag, der ohne Verletzungen von Mensch und Tier über die Bühne geht, ein guter Renntag. Ich werde nie vergessen, als Gerrit Gommans in Gelsenkirchen mit Herzinfarkt leblos vom Sulky gefallen ist und auf der Bahn minutenlang reanimiert wurde, letztlich erfolgreich. Diese Bilder kriegst du nicht aus dem Kopf. Das Wichtigste ist immer, dass bei den Rennen nichts passiert und kein Mensch oder Pferd zu Schaden kommt. Alles andere lässt sich klären. Was mir persönlich sehr viel Rückhalt gibt, ist meine Familie. Meine Frau ist nicht aus dem Sport, ist aber sehr interessiert und steht voll hinter mir, ebenso wie meine beiden Kinder. Und wenn mich meine drei Enkelkinder anlächeln, ist jeder Ärger sowieso vergessen.